Der Silbersack ist eine Kiez-Kaschemme, in der es bodenständig-charmant, aber auch mal recht deftig zuging. So ist den Hamburgern ein echtes Original erhalten geblieben, frei von trendy Tendenzen und geschmäcklerischem Design-Schnickschnack.
»An diesem Ort kam es zu keinerlei Auseinandersetzung zwischen irgendwelchen Banden (...) Es war ganz klar gesetzt – wer hier reinkommt hat sich friedlich zu verhalten. Das einzige Gesetzt, was hier herrschte, war von Erna.«
Ja, willkommen! Hier seid ihr beim Silbersack. Die Kneipe „Zum Silbersack“ besteht seit 1949 und sie wurde damals von Erna Thomsen mit ihrem Mann zusammen gegründet. Als Folge des zweiten Weltkrieges war diese Fläche, an der ihr hier den „Silbersack“ jetzt vorfindet, damals eine Brachfläche. Die wurde dann gekauft und auf ihr wurde dann – mehr oder weniger – eher provisorisch der erste Rahmen des Silbersacks errichtet. Das war damals noch mehr eine Bretterbude und wurde dann mit den Jahren immer weiter ergänzt. Der Silbersack an sich wurde damals von Erna Thomsen gegründet und was den Silbersack besonders macht, ist, dass er von ihr selber auch bis einschließlich 2012 geführt wurde. Das heißt also, diese Kneipe war die ganzen Jahrzehnte über in einer Hand. Erna hat das dann bis 2012, im Alter von 81 Jahren, mit Leidenschaft und Hingabe so betrieben und ist dann leider verstorben.
Nach ihrem Tod war natürlich erst mal die große Frage: Wie geht es weiter mit dem Silbersack? Da darf ich dann an der Stelle ganz kurz zu mir kommen: Ich bin Dominik, der derzeitige Betreiber des Silbersacks. Ich war zur damaligen Zeit, als Erna noch lebte, einer ihrer Angestellten. Ich habe hier als Vollzeitwirt gearbeitet, sie also quasi immer dann vertreten, wenn sie nicht vor Ort war. Ich habe das primär wie ein klassischer Kneiper unterwöchig gemacht, also von Sonntag bis einschließlich Donnerstag und für das Wochenendgeschäft durfte ich mich dann einmal ausklinken. Ja, mir wurde dann diese Ehre zuteil, den Laden ab 2012 weiterzubetreiben. Das mache ich jetzt mittlerweile knapp siebeneinhalb Jahre. Ich versuche das so zu gestalten, dass der Silbersack möglichst in der Form, wie ihn die Leute seit jeher liebten, auch fortzuführen. Das gibt einen kleinen Eindruck, wie Sankt Pauli mit seinen Hafenkneipen auch mal stattgefunden hat. Bei der Historie gilt natürlich zusagen, dass in der direkten Zeit nach dem Krieg Hamburg erstmal im Wiederaufbau war. Man musste sich neu erfinden und die Leute hatten nach dem Krieg natürlich auch das Bedürfnis, vieles hinter sich zu lassen. Alkohol ist immer auch ein gutes Hilfsmittel dafür. Insofern waren Kneipen nicht wirklich unbeliebt zu dieser Zeit. Das hat es Erna wahrscheinlich auch in den Anfangsjahren ein klein wenig erleichtert, den Betrieb hier überhaupt erstmal aufzubauen. Die Folgejahre, sage ich jetzt mal so, die goldene Ära von Sankt Pauli an sich, war mit Sicherheit erst der Wandel, der in den Sechzigern aufkam. Deutschland – überregional, Wirtschaftswunder. Man kennt die Geschichten, wie sich Deutschland neu erfunden hat. Die Seefahrt war dann natürlichen ein sehr wichtiger Aspekt und in den, sage ich jetzt mal, sechziger Jahren – ohne die anderen Jahrzehnte dabei ausklinken zu wollen, die waren mit Sicherheit auch signifikant – waren auf jeden Fall sehr viele Seeleute in Hamburg unterwegs. Die haben alle gar nicht weit weg vom Silbersack an den Landungsbrücken oder Altona angelegt und damals wurden die Schiffe noch von einer sehr zahlreichen Crew entladen. Und wenn die Schichtwechsel oder Feierabend hatten, dann war natürlich der erste Gang immer der in die Kneipe. Diese Zeit war hier mit Sicherheit sehr prägend. Das war eine wilde Zeit auf Sankt Pauli, da war einiges los. Seeleute aus aller Welt haben den Stadtteil besucht, hatten ein bestimmtes Bild von ihm und was hier stattfindet. Nämlich all das, was man anderswo nicht machen durfte. Das war auch der Historie von Sankt Pauli an sich verschuldet als Stadtteil vor den Toren Hamburgs. Hier dufte alles gemacht werden, was anderswo verboten war. Da gehörten Glücksspiele dazu, Prostitution und was man sich sonst noch so schönes vorstellen kann. Mit dieser Idee sind die Seeleute auch hier ausgegangen, verkehrt und haben sich erst Mut angetrunken, um dann allen weiteren Tätigkeiten nachzugehen. Das „Mut antrinken“ hat primär in Kneipen wie dem Silbersack stattgefunden und Erna als Betreiberin musste da ihre Frau stehen. Sie hat das, denke ich retrospektiv, mit Bravour bestanden und hat sich so hier auch ihren Namen erarbeitet. Sie, in ihrer Funktion als Kneiperin, ist noch viel weiter in die Tiefe gegangen, was den Umgang mit ihren Seeleuten und Stammgästen anging. Sie hatte nämlich, unter anderem, auch für die Seeleute die Heuer gehütet. Soll heißen, sie hat sowas wie eine kleine Privatbank dargestellt. Die Seeleute haben ihr quasi ihre Lohnbeutel gegeben. Erna hat das protokolliert, was an Geld bei ihr abgegeben wurde, und die Familien der Seeleute konnten sich während der Zeit, in der die Männer dann zur See gefahren sind, immer wieder auch mal Geld bei Erna abholen. Wenn keine Familie vorhanden war, haben das die Seeleute nach ihrem nächsten Trip selber getan. Das heißt, wenn sie zurück nach Hamburg kamen, haben sie einmal kurz bei Erna Stopp gemacht, gefragt, was sie denn überhaupt noch auf dem Konto haben und dann durften sie das entweder klassisch versaufen oder einstecken, weil sie irgendwelche anderen Bestrebungen hatten mit dem Geld. Ja, das war tatsächlich eine sehr vertrauenswürdige Aufgabe, die Erna da erfüllt hat und das hat auch dazu geführt, dass sie mit vielen Seeleuten etwas innigeren Kontakt hatte, als dass man von normalen Gästen im Kneipenbetrieb vielleicht so erwarten würde. Dementsprechend haben wir auch heute noch Gäste, die von ihren Großvätern oder Großeltern erzählen, wie sie immer auf jeder Familienfeier davon schwärmen und wenn mal die Kinder oder Enkelkinder nach Hamburg kämen, hätten sie unbedingt in den „Sack“ zu kommen und Erna zu grüßen. Obgleich sie jetzt leider nicht mehr lebt, haben sie immer noch die Mission wenigstens einmal hier ihr Bier zu trinken. Ich kenn auch viele Gäste, die mit achtzehn Jahren hier stolz auf der Türschwelle mit den Füßen gescharrt haben, um endlich ihr allererstes Bier hier offiziell in dieser Kneipe trinken zu dürfen. Auch solche Geschichten bringt dieser Laden mit sich. Da kann man dann mit Gewissheit sagen, dass zum Thema Identifikation mit dem Stadtteil, der Silbersack einfach eine feste Institution ist. Die Seeleute, die seinerzeit zu Besuch in Hamburg waren, haben diesen Ort lieben gelernt. Nicht wenige von ihnen haben letztendlich dann Hamburg als ihren zukünftigen Heimatort auserkoren und beschlossen, wenn sie mal nicht mehr zur See fahren würden, müssten sie dann in Hamburg landen und hier ihre Familien gründen. Und auch diese Seeleute, die halt nicht mehr zur See fahren, sind uns heute noch teilweise treue Gäste.
Der Stadtteil ist natürlich im Jahr 2020 nicht mehr so von der Seefahrt geprägt, wie er das vielleicht in den 60/70ern noch war. Er hat insgesamt diverse Zeiten durchgemacht, die man unter einen unterschiedlichen Banner stellen kann. Es gab sicherlich auch etwas weniger romantischere Zeiten, als hier zum Beispiel die Bandenkriege in Hamburg gerade aktiv waren. Das war eine schwierige Zeit, weil natürlich der offene Austrag von Disputen zwischen unterschiedlichen Banden auf der Straße zu Unsicherheit geführt hat. Gäste oder Anwohner, die in diese ganzen Angelegenheiten nicht involviert waren, für die war zu der Zeit Sankt Pauli sicherlich etwas unattraktiver. Auch zwischen den Streithähnen, die hier abstecken wollten, wem was gehört oder wer für was verantwortlich ist, war es schwierig sich hier frei im Stadtteil zu bewegen. Da nahm auch der Silbersack wiederum eine sehr interessante Rolle an, nämlich dass dieser Ort hier ein neutraler Punkt war. An diesem Ort kam es zu keinerlei Auseinandersetzung zwischen irgendwelchen Banden und er gehörte auch keiner in irgendeiner Art und Weise an. Es war ganz klar gesetzt – wer hier reinkommt hat sich friedlich zu verhalten. Das einzige Gesetzt, was hier herrschte, war von Erna. So kam es sogar zustande, dass hier Streithähne mitunter nebeneinander am Tresen saßen und sich einfach mal zusammenreißen mussten, weil’s einfach nicht erlaubt gewesen wäre sich hier zu zoffen, beziehungsweise zu prügeln. Da hat Erna großen Wert drauf gelegt, dass solche Streitigkeiten außerhalb des Silbersacks stattfinden. Heutzutage haben wir dieses Problem zum Glück nicht mehr.
In den neunziger Jahren hat Sankt Pauli einen schweren Schlag erlitten, weil damals das HIVirus aufkam. Aids war ein großes Thema. Viele hatten Angst davor, keiner wusste so genau, was es denn überhaupt bedeutet oder wie man es bekommt. In den Anfängen war die Aufklärung definitiv nicht in der Art und Weise vorhanden, man könnte es heutzutage belächeln. Ähnlich belächeln kann man wahrscheinlich in zehn Jahren unseren Umgang mit dem heutigen Coronavirus. Hinterher ist man halt immer schlauer. In erster Instanz ist man halt sehr reserviert, verängstigt und handelt auch dementsprechend. Das hat damals dazu geführt, dass der Stadtteil wirklich schwer gelitten hat. In den Kneipen war nichts los, die Prostitution ist auch eingebrochen. Insgesamt war der Stadtteil einfach wahnsinnig gebeutelt, wahrscheinlich viel intensiver als das andere Partymeilen oder Erlebnismeilen in Deutschland von sich behaupten müssten. Hat aber auch dann natürlich wieder ein Stück weit dazu geführt, dass der nächste Wandel in diesem Stadtteil eingeleitet wurde und durch diese etwas ruhigeren Umgangsformen wurde es auf einmal auch wieder etwas attraktiver für das Familienleben.
Wenn wir dann jetzt heute im Jahr 2020 gucken, wie sich der Stadtteil gestaltet, dann kann man sagen, dass er eine wahnsinnige Diversität vorzuweisen hat. Es gibt hier durchaus noch Menschen, die im Milieu tätig sind und auch wohnhaft sind. Es gibt hier diese klassischen Sachen, die man sich vorstellt unter Sankt Pauli – die Prostituierte lebt neben dem Hafenarbeiter und oben in der Penthousewohnung wohnt eventuell noch ein Zuhälter oder was auch immer. Es ist immer noch ein Stadtteil, der Kreative anzieht, weil es einfach auch spannend ist, all dieses Geschehen hier zu beobachten. Es lassen sich auch gerne Studenten hier nieder, weil der Stadtteil einfach immer lebendig ist und das genau das ist, was man in jungen Jahren haben möchte. Hier zu jederzeit vor die Tür gehen zu können und alles erdenkliche zu erleben. Das hat diverse Anreize für unterschiedlichste Gesellschaftsgruppen und insofern kann man sagen, wenn man heute durch den Stadtteil spaziert, ob tagsüber oder nachts, dann findet man eigentlich Menschen aller Couleur. Das würde ich immer hervorheben, das ist das, was den Stadtteil ausmacht und das ist auch das, was den Silbersack ausmacht. Wenn man sich unsere Gäste anguckt, dann findet man hier Menschen mit dem kleinsten Budget, das man sich vorstellen kann – nämlich sogar wohnungslose Menschen, die hier gerne verkehren, die hier die „Hinz&Kunzt Zeitung" verkaufen, die die Gelegenheit nutzen, einfach auch mal wieder mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und sich dann auch gerne mal ein, zwei Stunden hier aufhalten. Von Touristen, die die Stadt gerade bereisen, auch wohlwollend akzeptiert werden und von denen auch mal ein Bier ausgegeben bekommen. Hier kommt es auch zu unheimlich schönen – für mich als Wirt zu beobachtenden – Szenarien. Ein Banker, der gerade für eine Fortbildung nach Hamburg gereist ist, irgendwo in Düsseldorf wohnhaft, im fünfhundert Euro Anzug, sitzt neben jemandem, der seit einer Woche keine Möglichkeit hatte seine Kleidung zu wechseln. Und trotzdem in beiden Gesichtern ein Lächeln zu erkennen ist und sie sich sehr gut miteinander verstehen. Das ist jetzt ein besonders hervorgehobenes Szenario, es gibt natürlich auch viel einfachere Geschichten. Wenn gerade wieder eine Messe in der Stadt ist und sich Messebauer am Tresen eintreffen. Oder dass ein Angestellter, der zwei linke Hände hat und meinetwegen für eine Bank arbeitet oder eine Versicherung – völlig egal was – mit einem Handwerker ins Gespräch kommt. Der Handwerker eine Frage hat, wie er denn am besten mit seiner Versicherung umzugehen hätte. Der Versicherungsvertreter eine Frage hat, wie er am besten sein Zimmer tapezieren kann. Dass es so dann auch immer wieder zu tollen Zusammenkünften kommt, dass man einfach miteinander Fähigkeiten austauscht und dann auf einen gemeinsamen Nenner kommt und so Menschen miteinander verknüpft werden.
Dieser Punkt ist tatsächlich auch ganz wichtig, wenn man mal darüber reden möchte, was denn eine Kneipe überhaupt ist. Wie wichtig eine Kneipe ist und was ihre Rolle in so einem Stadtteil sein könnte. Man muss sich einfach mal angucken, wie sich so Städte entwickeln, gerade Metropolen wie Hamburg. Es wird immer enger, die Gentrifizierung führt dazu, dass aufgrund des Platzmangels die Wohnräume, die es noch gibt, dann auch entsprechend teuer werden. Das wiederum führt dazu, dass Menschen möglichst kleine Wohnräume nur anmieten, also auf sehr engem Raum versuchen irgendwie ihren Privatkram unter zu bringen und dann wiederum einfach Orte brauchen an denen sie sich auch mit anderen Menschen treffen können. Will heißen, ob jetzt ein Student oder auch ein Angestellter, der fünfzig Prozent seines mageren Einkommens für eine dreißig Quadratmeter Wohnung ausgibt, hat nicht mal eben die Möglichkeiten, einen Festsaal anzumieten um sich mit seinen Freunden zu treffen. Kann das aber genauso wenig in seiner dreißig Quadratmeter Wohnung machen. Für solche Angelegenheiten, für solche Verwendungszwecke ist es einfach sinnvoll, Kneipen im Stadtteil zu haben, mit denen man vertraut ist. Wo man die Wirte fragen kann, ob man solche Festlichkeiten dort ausrichten kann und wo man auch einen direkten Draht hat. Eine Geburtstagsfeier mitten im Stadtteil, bei der man dann seine Geschenke im Zweifelsfall noch in der Schnapskammer der Kneipe unterbringen kann, weil man betrunken keine Muße mehr hat, das alles noch nach Hause zu tragen. Diese sind heutzutage Gold wert. Ein direkter Bezug zu den Anwohnern und Stammgästen ist sehr wichtig – das beruht auf Gegenseitigkeit. Ein Mensch, der hier im Stadtteil lebt und ein halbes Jahr auf Montage ist oder tatsächlich noch zur See fährt. Auch das gibt es noch. Der hat trotzdem Angelegenheiten, die geklärt werden müssen und dafür gibt man dann gerne auch mal seine Stammkneipe als Adresse an, wenn man sich Pakete bestellt oder wenn da irgendwelche Anschreiben kommen. All solche Aufgaben machen wir Kneiper. Ich als Betreiber des Silbersacks auch sehr gerne für unsere Gäste. Völlig unabhängig von dem, was sie hier verzehren oder was der eigentliche Sinn und Zweck einer Kneipe sein mag. Das ist tatsächlich dann eine Art von Stadtteilarbeit, die man einfach irgendwann für sich erkennt und die dann auch, wohlwollend, aufrecht erhält. In einem Rahmen, den man gewährleisten kann. Neben dieser Stadtteilarbeit, die man sich als Stammkneipe über Jahrzehnte so angeeignet hat, gibt es natürlich auch noch den eigentlichen Betrieb der Kneipe wie er 2020 stattfindet. Das ist heutzutage ein sehr touristischer Betrieb. Das kann man nicht anders sagen und viele reden oft darüber, dass, wenn man am Wochenende nach Sankt Pauli fährt, da vermeintlich kaum noch Hamburger sieht. Diese These stelle ich immer in Frage, weil ich sage, es sind durchaus immernoch eine sehr hohe Zahl Hamburger. Aber es sind nicht unbedingt nur Menschen, die im Stadtteil leben und dann sag ich immer spaßeshalber: »Es gibt durchaus auch Hamburgtouristen innerhalb von Hamburg.« Nämlich die Leute, die hier irgendwo außerhalb wohnen. Zwar Bewohner dieser Stadt sind, aber Sankt Pauli als Naherholungsgebiet betrachten und dann am Wochenende hier herkommen, die Sau rauslassen und sich in der Art und Weise, wie sie das tun, eventuell kaum noch von den Touristen unterscheiden lassen. Was man aber nicht zwingend jetzt negativ sehen muss. Ich als Betreiber des Silbersacks, oder eher ich als Privatperson, betrachte diese Tätigkeit, dieses freizügige Leben am Wochenende, einfach mal die Sau rauszulassen, Alkohol zu konsumieren – das sehe ich eigentlich als eine Art Grundrecht an. Man braucht aber nicht darüber reden, dass es eine gefährliche Angelegenheit ist, Alkohol oder Drogen zu konsumieren. Das sollte man immer mit einer gewissen Weitsicht machen und auch eine Disziplin an den Tag legen, die nicht dazu führt, oder wenn sie nicht vorhanden ist, dass ich auch Stammgäste regelmäßig hier nach Hause schicke und sage:» Für heute war’s das.« Das ist eine Tradition, die auch Erna schon so gehandhabt hat. Wenn jemand einfach zu voll war, musste der eine Flasche Wasser trinken und wenn er sich geweigert hat die Flasche Wasser zu trinken, hatte er auch nichts weiteres bekommen. Da muss man manchmal natürlich den Leuten ein bisschen unter die Arme greifen. Das ist unsere Aufgabe als Kneiper auch darauf zu achten, dass sich der Konsum irgendwo in Maßen hält. Und würden das alle tun, hätten alle einen Bezug zu ihren Gästen, dann würde sich vielleicht auch das Szenario nachts auf Sankt Pauli etwas gediegener darstellen und es gäbe weniger Kritik daran.
Grundsätzlich hört man innerhalb des Stadtteiles natürlich öfter mal die Kritik an diesem überrannten, überladenen Sankt Pauli. Großveranstaltungen werden oft kritisiert, selbstverständlich primär von Anwohnern. Diese leiden da mit Sicherheit auch ein Stück weit drunter, weil das natürlich auch zu Verunreinigungen führt. Weil es auch zu Lärmstörungen führt in Zeiten, wenn eigentlich Partys vorbei sein sollten. Es führt sicherlich auch in gewissen Bereichen zu Sachbeschädigungen. Das ist alles nicht schön und das würde ich an dieser Stelle auch nicht gutheißen wollen. Auf der anderen Seite sehe ich das auch als Teil dieses Stadtteils an, dass er ein sehr lebendiger Stadtteil ist und bekanntlicherweise: Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Also insofern kann ich das alles selber noch irgendwie verkraften. Ich finde zumindest, dass es Orte geben muss, wo sowas stattfinden kann und wenn man etwas gewissenhaft damit umgeht, sowohl als Konsument als auch als Wirt, dann kann man auch solche Probleme sicherlich in den Griff bekommen. Was Touristen selber angeht sind sie eigentlich nichts anderes als damals die Seefahrer. Insofern kann man sagen, der Stadtteil hat sich in der Hinsicht gar nicht wirklich verändert. Der Beruf der Leute, die hier verkehren, mag sich zwar gewandelt haben, aber die Intention ist immer noch die gleiche. Es sind Leute die von außerhalb herkommen, die die Gunst der Stunde nutzen wollen hier alles Mögliche zu tun, was sie bei sich lieber nicht tun würden oder was sie bei sich auch einfach nicht tun können. Daher sehe ich in den Touristen eigentlich nur eine modernisierte Form der damaligen Seeleute. Wobei die Touristen, die man heutzutage zuerst bekommt, eventuell noch wesentlich leichter zu händeln sind, als es die ruppigen Seeleute einst gewesen wären.
Die Sachen, die einen am Stadtteil stören können und die man dann wirklich erwähnen muss, sind einfach, dass man das Gefühl hat, dass insgesamt die Wertschätzung abgenommen hat für das, was man hier bekommt und für das, was es zu erhalten gilt. Natürlich hat man Verständnis dafür, dass Gäste, wenn sie die Ambition haben die Sau rauszulassen, auf die Tische springen und tanzen. Was ich aber gar nicht verstehe ist dann auch immer wieder der Vandalismus innerhalb diverser Kneipen oder diese Gleichgültigkeit. Dass in den letzten sieben Jahren gefühlt zwanzig mal eine Kloschüssel oder Pinkelrinne aus der Verankerung gerissen wird. Das hat unterschiedliche Gründe, manchmal war es einfach nur fahrlässig oder aggressiv, manchmal war es einfach blöd, dass man gestolpert ist und voll in die Toilette reingeschlittert ist und die dann gleich mit umgerissen hat. Das hat schon zugenommen und das ist eine Sache, die mich auf jeden Fall stört. Dieser Laden hier ist einfach über siebzig Jahre alt und bestimmte Sachen lassen sich einfach nicht mehr reparieren. Beziehungsweise, wenn wir sie reparieren dann bedeutet das immer gleich Restauration. Wir können alte Holztische und Holzstühle nicht mal eben durch neue ersetzen. Das, was heutzutage gebaut wird, ist aus Plastik oder in einem moderneren Look und dementsprechend haben wir hier einen wahnsinnigen Aufwand all diese Sachen irgendwie in Schuss zu halten und das Gesamtbild des Silbersacks so auch zukünftig noch darstellen zu können. Das bedeutet, dass wir sehr viel Liebe und auch sehr viel Geld reinstecken müssen, um den Laden hier so zu präsentieren. Wir würden uns an manchen Tagen wünschen, dass er auch entsprechend Wertschätzung von unseren Gästen erfährt.
Und da kommen wir dann gleich zum nächsten Ding, was ich selber problematisch finde: die Außenwahrnehmung von Sankt Pauli. Wenn über Sankt Pauli berichtet wird, dann ist es immer ein krimineller Ort. Das Rotlichtviertel, dieser verruchte Ort. Ich sag’ mal, für Geistliche ist das hier eher ein Moloch – hier sind nur Verbrecher und wir Anwohner sind alles Leute, die sich bei Demos vermummen und auf Polizisten einprügeln. Auch wenn es solche Anwohner hier geben mag, das kann ja sein, ist das mit Sicherheit nicht stellvertretend für das, was Sankt Pauli ausmacht. Sankt Pauli ist weit mehr. Sankt Pauli ist ein Stadtteil, der durchaus ein einfacher Anwohnerstadtteil ist. Hier leben Familien, werden Kinder geboren und großgezogen und dieser Stadtteil ist so viel mehr als das, was in der Außenwahrnehmung präsentiert wird. Was mich immer wieder mal nervt ist, wie wir als Stadtteil manchmal wahrgenommen werden. Es ist definitiv so, dass es ein politisch aktiver Stadtteil ist und das finde ich auch hervorragend. Wir haben hier im Vergleich zu manchen anderen Stadtteilen auch eine sehr hohe Wahlbeteiligung. Die Anwohner des ganzen Stadtteiles sind sich auch bewusst über die Notwendigkeit und über die Pflichten, die sie als Bürger haben. Wir haben hier eine wahnsinnig hohe Beteiligung, wenn es darum geht sich solidarisch zu zeigen für eine bestimmte Einrichtung oder für bestimmte Personengruppen. Da gibt es immer gleich Freiwillige, die auch aktiv werden und helfen, wo sie nur können. Auch das ist ein Vorzeigeaspekt dieses Stadtteils. Wir sind davon geprägt, dass wir über eine wahnsinnige Diversität verfügen und dass wir hier in einer Koexistenz unterschiedlichster Couleur nebeneinander existieren. Also durchaus eine Prostituierte und ein Zuhälter neben irgendwelchen kreativen Künstlern, Schriftstellern etc. In nächster Instanz wäre es schön, wenn das nicht nur eine reine Koexistenz ist, also wenn man sich nicht nur akzeptiert wie man ist, sondern wenn man tatsächlich auch etwas enger aneinander ‘ranrückt und auch miteinander agiert. Aber auch das sehe ich schon an vielen Stellen im Stadtteil, dass es gut funktioniert und insofern guck’ ich auch sehr zuversichtlich in die Zukunft unseres tollen Stadtteiles. Er ist definitiv nicht einfach nur ein Ort, wo Deutsche hinreisen, wie an den Ballermann. Auch Mallorca als Insel hat ja mehr zu bieten, als das was wir immer über den Ballermann erfahren. Ähnlich kann man Sankt Pauli betrachten. Es mag sein, dass man hier durchaus so feiern könnte, wie das am Ballermann gängig ist und wie man darüber berichtet. Aber der Stadtteil Sankt Pauli als solches hat weit mehr zu bieten als nur das.
Und dann habe ich noch so ein schönes Ding, wenn man überlegt, was gibt es für Anekdoten zu erzählen zu einer Kneipe wie dem Silberssack. Da muss ich mal kurz ein bisschen persönlich werden. Ich habe eine große Schwäche: Wenn ich hier Gäste bekomme, dann kann ich mir sehr schnell merken was sie gerne trinken und sollten die tatsächlich auf die doofe Idee kommen innerhalb der nächsten zehn Jahre auch mal wieder zu kommen, dann ist nicht auszuschließen, dass ich mich daran erinnern kann, was die gerne trinken. Das erste, was man sich von dem Gast merkt ist immer, was er gerne trinkt. Das nächste, wie sein Name ist und danach geht’s in die Tiefe. Da kann man sich dann auch schon mal merken, wann die Enkelkinder Geburtstag haben oder ihr Abi gemacht haben. All diese Aspekte hat Erna erfüllt. Auf einem Level, wo ich sagen würde, das war Progamer. Sie hat mich während der Schicht angerufen und mir gesagt: „Wenn Hans heute kommt, dann stell dem bitte einen Veterano hin, der hat Geburtstag und in dem Fall war es tatsächlich so, dass Hans kam. Der wäre aber sowieso gekommen, weil er an fünf Tagen die Woche da war. Ich habe ihm den Veterano hingestellt und er hat gefragt, warum und wieso. Ich sagte: „Alles Gute zum Geburtstag, schöne Grüße von Erna!“ Er hatte zu dem Zeitpunkt tatsächlich selber vergessen, dass er heute Geburtstag hat. Das heißt also, Erna hat ihn an seinen Geburtstag erinnert, indem sie ihm einen gratis Schnaps serviert, ohne selbst vor Ort zu sein. Das ist aber nur ein Teil der Anekdote, die ich eigentlich erzählen möchte. Ich habe persönlich die Schwäche mir Gesichter nicht merken zu können und das bezieht sich vor allem auch auf Persönlichkeiten, die man eventuell aus der Öffentlichkeit kennt. Soll heißen Schauspieler, Musiker und so weiter. Und da sind mir schon einige Fauxpas passiert. Man könnte meinen, ich bin einfach ein ganz fairer Gastgeber und behandle jeden gleich, in Wirklichkeit aber erkenne ich einfach den Unterschied nicht und es spricht dann vielleicht für mich. Aber ich habe dadurch dann auch schon einige Stars vermeintlich verprellt, die gedacht hatten, sie würden hier eine Sonderbehandlung bekommen – was einfach nicht passiert ist. Da reihen sich auch unterschiedlichste Leute ein. Burlesque-Tänzerinnen, die man als internationale Stars kennt und mich nach einem Cosmopolitan fragt und ich sage: »Ja sehr gerne, dreh’ dich einfach einmal kurz um, geh zur Tür raus und dann nach rechts und such’ eine Cocktailbar.« Und dann ist sie tatsächlich einfach aus der Kneipe rausgegangen. Sie fühlte sich, glaube ich, ziemlich vor’n Kopf gestoßen. Ich fühlte mich aber zu dem Zeitpunkt auch vor’n Kopf gestoßen, wenn ich hinterm Tresen stehend beim Silbersack gefragt werde, ob ich ihr einen Cosmopolitan machen kann. Der gehört einfach nicht zu meinem Fundus. Aber es ist natürlich schön, dass ich relativ unschikaniert diesen Gast verprellt habe. Das ging weiter mit ‘nem anderen Star, jemand aus dem deutschen Fernsehen. Der hat mich am Tresen gefragt, ob das üblich wäre, dass man hier Unterschriften geben muss. Ich habe ihn auch nicht erkannt und dann habe ich ihm einfach nur gesagt: „Nein, der einzige, der Unterschriften gibt, das bin eigentlich ich auf den Quittungen.« Der hat das auch nicht so richtig spaßig aufgenommen, weil er eigentlich an der Stelle scheinbar darauf aufmerksam machen wollte, dass er ein Star ist und hier von Gästen mehr oder weniger belagert wird. Als er dann gegangen ist, habe ich mir von Gästen erstmal erzählen lassen, wer das überhaupt war. Ich kann auch da retrospektiv sagen – hab jetzt nichts verpasst, indem ich ihn nicht gefragt habe, ob er nicht Lust hätte sich im Gästebuch einzutragen. In diesem Gästebuch trage ich tatsächlich auch nicht wirklich viele Leute ein. Bei diversen Leuten ist es mir einfach zu blöd zu fragen oder ich möchte sie aber auch nicht belästigen. Ich denke auch, ein Star oder eine bekannte Person möchte irgendwo einfach mal einen Ort haben, wo sie sich zurücklehnen kann und wo die Bekanntheit eben nicht im Fokus steht, sondern einfach mal ihr Privatleben. Dementsprechend tue ich mich fürchterlich schwer, solche Leute dann zu fragen, ob sie sich im Nachhinein noch bereit erklären würden, sich in diesem Buch zu verewigen. Dementsprechend kann man heute in mein Gästebuch gucken und man findet dort mehr normale Anwohner. Von denen es mir wichtig war, nochmal eine Unterschrift zu bekommen oder einen schönen Satz, als dass man irgendwelche Stars darin vorfinden könnte.
Eine schöne Anekdote, die ich hier noch erzählen wollen würde, ist der Umgang mit besonderen Persönlichkeiten. Ich persönlich kenne das so einfach nicht, beziehungsweise eine besondere Persönlichkeit ist für mich nicht zwingend jemand, den man aus dem Fernsehen oder aus der Presse oder aus der Politik kennt. Besondere Persönlichkeiten beruhen immer auf Charaktereigenschaften, die ich für mich selber herausgearbeitet habe. Ganz selten sind die Personen, die man aus der Öffentlichkeit kennt gleichzeitig auch Personen, zu denen ich einen persönlichen Bezug habe. Eine Ausnahme unter all diesen Personen ist definitiv Ottfried Fischer. Zu dem habe ich schon einen, aus meiner Perspektive, engeren Bezug, weil er mich von Anfang an als Angestellter im Silbersack begleitet hat. Er war damals, als Erna den Laden noch betrieben hat, ein Stammgast und kehrte hier regelmäßig ein, wenn er in Hamburg irgendwelche Termine hatte. Als er das das erste Mal tat, war Erna zum Glück auch gerade im Haus. Er hatte auch nach ihr gefragt, sie kam dann auch nach vorne an den Tresen und er hat sie dann begrüßt. Ich habe ihn einfach als unheimlich angenehmen Gast wahrgenommen, weil er keine Starallüren hatte, weil er sich einfach an den Tresen gesetzt hat wie jeder andere auch sein Jever getrunken hat, aus der Flasche, wie jeder andere auch und bezahlt hat wie jeder andere auch. Das war einfach ein sehr angenehmer Umgang und ich habe ihn in den Folgejahren mehrmals hier zu Gast gehabt. Ich habe dann in der Regel immer bei Erna angerufen, die im Haus wohnte und habe Bescheid gesagt, dass er da ist, weil sie den Anspruch hatte ihn dann zu begrüßen. Einmal im Winter, ich glaube es war 2011, da kam er hier zu Gast relativ spät rein. Er hatte hier irgendwo eine Veranstaltung in Hamburg. Ich behaupte einfach mal und ich hoffe, das wird ihm nicht übel aufstoßen, er hatte auch schon etwas vorab getrunken. Also der insgesamte Status hier in der Kneipe war schon etwas fortgeschritten und ich habe an dem Abend entschieden, dass es um diese Uhrzeit und auch weil Erna zu dem Zeitpunkt leicht erkrankt war, es einfach nicht nötig war ihr Bescheid zu sagen, sondern ihn einfach nur als Gast zu bedienen und dann auch nach Hause zu schicken, wie sonst auch. Am Folgetag habe ich den Anschiss meines Lebens bekommen, weil ich Erna nicht Bescheid gegeben habe, dass er da war und sie doch den Anspruch hatte ihn zu begrüßen. Das wäre mir dann auch nie wieder passiert, aber leider Gottes kam es zu ihrer Lebenszeit auch nicht mehr dazu, dass ich ihr hätte Bescheid sagen können. Das letzte mal, dass ich ihn dann zu Gast hatte, war tatsächlich bei ihrer Beerdigung. Er war extra aus München angereist, um ihr auch Lebewohl zu sagen. Und auch an dem Tag, als wir hier hinterher noch in kleinen Umtrunk gemacht haben, hat er bis zur letzten Sekunde den Laden nicht verlassen. Ja, das finde ich sehr angenehm und ich hoffe, dass ich ihn hier noch mal wieder sehe. Mit ihm konnte man auf jeden Fall immer einen lustigen Abend erleben.