Seit 1970 betrieb Regis Genger die Neue Apotheke Sankt Pauli. Heute wird daraus mit ihrer Tochter Anna ein Museum, ein Atelier und ein Veranstaltungsort für Lesungen, Seminare und Kunst in jeder Form.
»(...) weil ich der Meinung bin, dass sich Intelligenz nicht mit Sexualität ausschließt, dass beides koexistieren kann und, dass ich eigentlich schade finde, dass es überhaupt den Begriff Schmuddeligkeit gibt (...), weil Sexualität (...) immer seine Existenzberechtigung hat.«
Ich bin Anna Genger, die Besitzerin der Neuen Apotheke Sankt Pauli, die mittlerweile nicht mehr so heißt, sondern „L’apotheque“ von uns genannt wird. Die Geschichte ist, dass meine Mutter 1969 hier einen Pachtvertrag unterzeichnet hat und dann im Januar 1970 alleine eine Apotheke eröffnet hat. Ich bin 1978 hier geboren und auch in diesem Geschäft aufgewachsen. Die ersten Geschichten handeln davon, dass ich wohl die Kunden zum Lachen gebracht habe, weil ich als Baby in einer Schaukel im Türrahmen hing und auch in mit einem kleinen Schaukelpferd hier immer hin und her gewackelt bin. Meine Mutter war alleinerziehend, deswegen habe ich meine Kindheit eigentlich komplett auf Sankt Pauli verbracht, auch wenn wir in Winterhude gelebt haben. Ich bin in der Hochallee zur Schule gegangen, mit den höheren Töchtern Hamburgs, und deswegen gibt es auch da lustige Anekdoten, dass meine Mutter es wichtig fand, gerade weil wir auf Sankt Pauli waren, mich in den Hamburger Kinderstuben anziehen zu lassen. Aber wenn man als kleines Mädchen mit Spitzenkragen und dunkelblauen Mänteln auf dem Kiez herumläuft, dann gibt’s Schelle von den Nachbarn. Das heißt, ich hatte hier zwar ein oder zwei Freundinnen, aber insgesamt war ich hier eher nicht Teil des Gesamtbildes des Viertels.
Mit 19 Jahren habe ich Hamburg verlassen, um in London Kunst zu studieren und war dann auch mehrere Jahre lang da. Dann habe ich in Paris gelebt, in London gelebt, in New York eine Zeit lang, dann ziemlich lange in Berlin und bin dann erst nach Hamburg zurückgekehrt, als meine Mutter sehr krank wurde.
Als meine Mutter krank wurde, hatte ich nicht die Möglichkeit das Geschäft zu verkaufen, weil es unter Denkmalschutz steht. Dieser Denkmalschutz besteht für dieses Haus schon seit 2013 und tatsächlich für die Apotheke selbst erst mit der Schließung unserer Apotheke, weil ein Nachbar uns angezeigt hat. „Angezeigt“ ist vielleicht ein hartes Wort, aber er hat das Denkmalschutzamt darauf aufmerksam gemacht, dass die Neue Apotheke Sankt Pauli nicht die älteste der Stadt ist, aber die einzige, die seit 1799 als solche geführt wurde. Also ist die Historie unseres Laden die, dass sie bis zum 7. September 2018 eine Apotheke war und angelehnt an diesen eigentlich ganz schönen Gedanken fand ich es wichtig, dass wir den Namen zumindest teilweise beibehalten.
Die Geschichte meiner Familie ist Französisch und deswegen habe ich mich für den archaischen Geschäftsnamen „L’apotheque“ entschieden, obwohl das auch nicht meine Idee ist, sondern die Idee einer ganz tollen Werbeagentur war und ist, die mein Projekt begleitet.
L’apotheque wird hoffentlich ein ganz besonderer Ort werden. Ich wurde gerade von der BILD interviewt, die das so ein bisschen simplifiziert „Museum für Sex“ nennt, aber es soll natürlich viel mehr sein. Es wird hier einerseits tatsächlich ein Museum für Sexspielzeug entstehen, andererseits auch ein Raum, wo wir zeitgenössische Kunst zeigen. Da ich auch selbst Künstlerin bin und unfassbar gut weltweit vernetzt, können wir hier auch namenhafte Leute hereinbringen, die ich dann mische mit jungen Künstlern, die gerade erst anfangen. Gerade die Kombination überrascht natürlich einige Leute, was Sex – Sexspielzeug vor allem – jetzt mit Kunst zu tun hat, aber je mehr wir darüber nachdenken und forschen, öffnen sich ganz viele Türen. Es hat eine ganz bedeutenden Relevanz für Körperlichkeit, für die Positionierung der Geschlechter und Feminismus ist ein Thema. Grundsätzlich interessieren uns sämtliche künstlerische Positionen, nur dass sie in gewisser Weise auch Bezug auf den Ort und auf den Inhalt nehmen müssen. Das heißt: Prüde Leute haben in L’apotheque keinen Platz!
Und dann ist natürlich auch der Bogen zu finden zu der alten Apotheke, weil das Mobiliar ja hier bleibt, dass wir immer einen Bezug auf Geschichte, Körper und Gesundheit nehmen können und das ist der – vielleicht auch zu nüchterne – Ansatz über L’apotheque nachzudenken, dass wir uns mit Gesundheit auseinandersetzen.
L’apotheque soll aber bei all dem Überlegen und Nachdenken über Feminismus und Wissenschaft nicht den Humor verlieren. Ich werde immer wieder gefragt: »Willst du hier noch eine Bumsbude machen?« Das ist die eine Frage und die andere Frage ist: »Möchtest du etwas machen, was sich abhebt und nicht so schmuddelig ist, wie der Rest von Sankt Pauli?« Und da kann ich sagen: Weder noch, weil ich der Meinung bin, dass sich Intelligenz nicht mit Sexualität ausschließt, dass beides koexistieren kann, dass ich es eigentlich schade finde, dass es überhaupt den Begriff „Schmuddeligkeit“ gibt in der heutigen Sprache, weil Sexualität, in welcher Form auch immer, seine Existenzberechtigung hat und es mir ein großes Anliegen ist, dass keine Gruppierung sich ausgeschlossen fühlt. Was aber auch noch eine lustige Anekdote ist, die sich entwickelt hat in den letzten Diskussionen, dass wir auch nicht sagen können, dass wir alle Sexualitäten hier vertreten wollen, weil das natürlich auch die mit einschließen würde, die Sex mit Leichen, Tieren oder Kindern hat.
Auf jeden Fall ist mir wichtig, dass wir einen Ort schaffen, der Menschen aus anderen Vierteln und anderen Lebensumständen nach Sankt Pauli holt. Da wäre ich dann auch bei der Überlegung, ob es Aspekte gibt, die mich hier stören … Ne, weil ich einen sehr umfangreichen Freiheitsbegriff habe und das ist so der Zusammenschluss auch wie ich Feminismus definiere, was sicher auch eine Frage ist, wenn man als Frau einen Sexshop hat. Den habe ich ja parallel, das habe ich noch gar nicht erzählt. Diese ganze Geschichte wird finanziert, weil ich einen Online-Sexshop gründen möchte und da stellt sich natürlich die Frage, wie man sich als Frau positioniert. Da ist es mir ganz wichtig zu argumentieren, dass Feminismus der absolute Freiheitsbegriff sein sollte. Das ist vielleicht auch eine persönliche Anekdote, dass ich immer wieder kritisiert werde von Feministinnen, dass ich mich schminke, dass ich lange Fingernägel habe und hohe Absätze trage, aber ich vehement darauf bestehe, dass ich das für mich tue und für meine eigene Ästhetik und eigentlich sagen kann, dass 99 % aller Männer, mit denen ich jemals etwas hatte, unlackierte, kurze Fingernägel bevorzugt hätten. Deswegen stört mich nichts an Sankt Pauli, weil alles seine Existenzberechtigung haben sollte. Vielleicht stören mich tatsächlich nur die Leute, die mich ein paarmal beschimpft haben, als ich wieder hier her gekommen bin nach Hamburg, dass ich mit meinem Projekt hier nur gentrifizieren würde … und das war aber ganz lustig. Das ist mir einmal in einer Bar passiert mit einer betrunkenen Frau, die meinte: »Bist du auch so eine Tussi, die sich breit macht auf unserem Kiez?!« und dann der Barkeeper ihr zuzischte, dass ich die Tochter von Frau Genger sei und hier geboren bin und wahrscheinlich mehr Sankt Paulianerin als sie selbst mit ihrem hessischen Akzent.
Ich identifiziere mich deshalb mit Sankt Pauli, weil es hier die Kleine und die Große Freiheit gibt. Darüber habe ich tatsächlich nachgedacht, dass ich keinen Ort der Welt kennen gelernt habe, der so kleinstädtisch und so großstädtisch zugleich sein kann. Ich bin der Meinung, dass wir hier auf Sankt Pauli die Geburtsstunde oder den Geburtsort, gerade wenn man sich mit Sexualität auseinandersetzt, für etwas sein kann, was dann nach und nach in Deutschland, in Europa und dann weltweit Relevanz hat. Das ist vielleicht nicht ganz über meine Suppenschüssel hinaus geschaut, weil Londoner und Amerikaner das komplett anders sehen, aber ich denke, dass Sankt Pauli für mich wirklich der Inbegriff der Freiheit ist. Ich habe in Winterhude gelebt, oder auch da hatten wir eine Wohnung, und meine Mutter hat auch eine Zeit in Rissen/Blankenese gewohnt. Die Leute schauen einen da anders an und ich habe das Gefühl, dass man verurteilt wird, bewertet wird und dieses Gefühl habe ich auf Sankt Pauli nicht. Das ist ähnlich wie London nicht für Großbritannien steht und New York nicht für Amerika steht, so steht Sankt Pauli nicht für Deutschland. Wir haben hier eine kleine Insel der Freiheit. Ich wollte noch irgendwie den Hamburger Berg mit herein basteln, weil ich finde, dass das auch so eine wichtige Straße ist, aber ja, der Hamburger Berg … der große Berg und die Kleine Freiheit und die Große Freiheit, das sind für mich Dinge, die Sankt Pauli ausmachen, die einen ganz besonderen Charme haben.
Meine Mutter, die psychisch krank ist, Pflegestufe 4 hat und die letzten zwei Jahre eigentlich völlig vereinsamt in einer Wohnung in Rissen gelebt hat, habe ich jetzt zu mir geholt und sie wohnt nun auch auf Sankt Pauli. Sie blüht hier komplett auf, weil sie jeden Tag auf die Straße geht und sich gegenüber in die Weinbar setzt oder ins Café und teilweise länger nachts unterwegs ist als ich. Mich freut das sehr, dass es diese Ausgrenzung hier nicht gibt, dass ein alter Mensch Kontakt mit jungen Menschen hat und das ist tatsächlich in anderen Vierteln nicht so üblich. Sie setzt sich einfach immer dazu, ob die Leute das immer so gut finden in den Cafés und in der Weinbar, das weiß ich natürlich nicht, aber bis jetzt konnte ich da ganz positive Gespräche beobachten.
Wenn ich Sankt Pauli mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich tatsächlich wieder bei dem Wort „Freiheit“ landen. Denn egal, wie reich, wie konservativ ich im Alter werde, möchte ich hier bleiben, weil das mein Anker ist. Das andere Wort wäre „Anker“, den ich auch nicht auf dem Arm tätowiert haben muss.