Hamburg Leuchtfeuer ist das Unternehmen Menschlichkeit. Es versteht sich als mutige und innovative Pflege- und Hospiz-Organisation, die genau hinschaut und auch Themen bewegt, die gesellschaftlich tabuisiert werden.
»Wir können das Leben nicht verlängern, aber wir wollen den Tagen mehr Leben geben, also das, was den Menschen noch möglich ist, wirklich auch an Leben zu füllen. Vielleicht ist das auch ein bisschen Bestandteil von Sankt Pauli zu sagen: Hier ist Leben in all seiner Buntheit.«
Wir sind Hamburg Leuchtfeuer und mir ist immer einmal wichtig, hoffentlich in der Kürze, auch einmal zu beschreiben: Hamburg Leuchtfeuer ist einmal hier in der Simon-von-Utrecht-Straße das stationäre Hospiz, aber Hamburg Leuchtfeuer ist viel mehr. Hamburg Leuchtfeuer hat unterschiedliche Einrichtungen, die sich alle im weitesten Sinne mit Menschen in Ausnahmesituationen beschäftigen und eigentlich auch mit Menschen mit Erkrankungen oder auch in der letzten Lebenszeit. Das heißt, Hamburg Leuchtfeuer ist eine gemeinnützige Organisation. Aktuell, also Stand heute, sind es 65 hauptamtliche Mitarbeiter, die insgesamt bei Hamburg Leuchtfeuer arbeiten, aber mindestens genauso wichtig sind die rund 100 ehrenamtliche Mitarbeiter, die in allen Bereichen tätig sind. Von diesen 100 ehrenamtlichen Mitarbeitern, die uns auch in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen, sind 70 Ehrenamtliche hier stationär im Hospiz tätig. Das ist wirklich großartig, dass es diese Mischung gibt von hauptamtlichen Mitarbeitern und eben auch über all die Jahre dieses „getragen sein“ von bürgerschaftlichem Engagement. Da komm ich eigentlich auch schon zur Geschichte von Hamburg Leuchtfeuer.
Hamburg Leuchtfeuer ist eine gemeinnützige Organisation, die es schon sehr lange gibt. Das stationäre Hospiz hier auf Sankt Pauli gibt es seit 1998. Dieses Jahr sind wir quasi 22 geworden, also wir arbeiten seit 22 Jahren hier als stationäres Hospiz. Hamburg Leuchtfeuer selbst ist sogar viel älter. ’94 wurde diese Organisation ins Leben gerufen, damals noch als eine Tochter der Aidshilfe, weil der primäre Auftrag war, Menschen mit HIV und Aids zu begleiten. Für euch ist das wahrscheinlich eher mehr eine Erinnerung an Geschichte, aber es war eben tatsächlich so … Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre war das ein Riesenthema. Das HI-Virus war wirklich ganz erschreckend, ganz massiv, weil Menschen, die infiziert wurden, leider wirklich oft in kürzester Zeit dramatisch sterben mussten, sodass es häufig, neben der Schwere des Verlaufes, damit einherging, dass die Menschen, die infiziert waren, einer maximalen Stigmatisierung ausgesetzt waren. Es hat überwiegend homosexuelle Männer und Prostituierte getroffen. Es war eine Krankheit, die auch ein bisschen was Anrüchiges hatte. So hat Hamburg Leuchtfeuer sich Mitte der 90er Jahre zum Ziel gesetzt Menschen mit HIV und Aids zu begleiten, zu unterstützen und ihnen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Aus der Zeit gibt es auch immer noch Hamburg Leuchtfeuer Aufwind, das sind Kollegen, die Menschen mit HIV und Aids zuhause begleiten. Diese Begleitungsangebote wurden erweitert auf chronisch kranke Menschen und aus dieser ambulanten Arbeit, also Menschen zuhause zu begleiten, entstand Mitte der 90er Jahre relativ schnell der Wunsch: Wir möchten ein Haus, das Schutz bietet, das würde ermöglicht, auch oder gerade, wenn Menschen so schwer krank sind und sterben müssen.
Geschichtlich geht das so ein bisschen Hand in Hand mit den ersten stationären Hospizen in Deutschland, sodass Mitte der 90er Jahre die Idee geboren wurde ein stationäres Hospiz für Menschen mit HIV und Aids zu eröffnen. Das erklärt dann eigentlich auch so ein bisschen unseren Standort. Ein Hospiz auf Sankt Pauli, das ist für mich ein bisschen formuliert wie »Auch unser
Standort ist schon eine Haltung – mitten im Leben.«
Damals war es tatsächlich so, dass auch viele junge Menschen betroffen waren, dass gefragt wurde: »Wo wollt ihr sterben?« Es war häufig der Wunsch: »Wir möchten da sterben, wo wir gelebt haben, nämlich wirklich mitten drin!« Das ist auch nach 22 Jahren noch so, auch wenn es sich insofern verändert hat, dass wir glücklicherweise aufgrund von medizinischer Entwicklung, nicht mehr primär Menschen mit HIV und Aids begleiten. Mittlerweile können die Menschen anders therapeutisch begleitet werden. Es gibt eine sehr viel längere Lebenserwartung als noch zu der Zeit damals. Die Menschen, die wir hier begleiten, sind zu über 95 % Krebspatienten, onkologische Patienten, die keine Heiltherapien mehr bekommen können oder auch ablehnen und wo es klar ist, dass die Lebenszeit deutlich begrenzt sein wird. Deutlich begrenzt heißt von wenigen Tagen bis hin zu wenigen Monaten. Durchschnittlich leben die Menschen vier Wochen hier. Das ist ein bisschen wie so eine „Gummiband-Statistik“. Manche Menschen kommen zu uns und leben nur noch wenige Tage. Manche Menschen kommen zu uns und man spürt – hoffentlich wegen der guten Begleitung – sie stabilisieren sich, gewinnen noch einmal an Kraft und haben wirklich noch etwas mehr Lebenszeit, über ein paar Wochen bis hin zu ein paar Monaten. Aber allen Menschen, die hier arbeiten, die hier leben und sterben, ist es gemein, dass dieser Ausdruck auf Sankt Pauli zu sein, also wirklich diese Lebenszeit des Abschieds, die sehr intensiv ist, mitten im Leben zu verbringen. Sei es zu wissen, es ist der Weg einmal um die Ecke zu Budni, den man auch selber noch gehen kann, die Nähe zur Elbe oder auch ins Café mit Angehörigen im Rollstuhl – man ist direkt mitten drin.
Sankt Pauli ist bunt und Sankt Pauli ist ein Stadtteil, der extrem offen ist. Das ist auch wirklich etwas, was unsere Bewohner zurückmelden, dass sie sich hier auch auf eine Art wohlfühlen im draußen sein, weil in diesem bunten, trubeligen Leben den Menschen in schwerer Erkrankung keine besondere Stellung erteilt wird, sondern man noch einmal Teil sein kann, mitten drin.
Aber Hamburg Leuchtfeuer hat sich aus der Hospizarbeit weiterentwickelt. Es gibt seit 2007 in Altona das Hamburger Lotsenhaus. Das ist ein Haus für Trauer, Begleitung, Bestattung und auch für Bildung, mit vielen tollen Seminarangeboten. Aktuell entwickelt Hamburg Leuchtfeuer ein neues Wohnprojekt, das in der Hafencity gebaut wird, am Baakenhafen, Hamburg Leuchtfeuer Festland. Damit werden wir das Begleitungsangebot erweitern, insofern, dass in diesem Wohnprojekt junge chronisch kranke Menschen wohnen werden, die nicht mehr in normalen Wohnungen bleiben können, sondern etwas mehr Betreuungsbedarf haben und Interesse an einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt, aber andererseits noch viel zu jung sind für das Pflegeheim. Das ist wirklich eine unglaublich große Versorgungslücke aktuell, dass es für diese jungen Menschen keinen richtigen Platz gibt. Auch dieses Wohnprojekt ist entsprechend unserer Philosophie nicht irgendwo auf einer grünen Wiese, sondern eben mitten im Leben. Das ist ja auch schon eine Überleitung zu der nächsten Frage »Warum identifizieren wir uns mit Sankt Pauli?«
Ich denke, ich kann das ganz gut mit dem zusammenfassen, was ich vorhin sagte, nochmals betont: Unser Standort ist auch Ausdruck einer Haltung, weil Sterben Teil des Lebens ist – wirklich auch mittendrin – und Sterben jederzeit stattfinden kann. Wenn man hereinkommt, dann sieht man das auch auf den Säulen. Da gibt es diesen Spruch, der auch unser Grundsatz ist, zu sagen, uns ist es nicht möglich dem Leben mehr Tage zu geben. Wir wollen das Leben nicht verlängern. Wir können das Leben nicht verlängern, aber wir wollen den Tagen mehr Leben geben, also das, was den Menschen noch möglich ist, wirklich auch an Leben zu füllen. Vielleicht ist das auch ein bisschen Bestandteil von Sankt Pauli: Hier ist Leben in all seiner Buntheit. Auch in seiner Bandbreite, die einem hier begegnet, zwischen Armut auf der einen Seite und auf der anderen Seite gibt es den Tourismus, wahnsinnig viel Glamour, wenn abends – wenn nicht grade Corona ist – die Feiermeile voll ist. Diese Gegensätzlichkeiten in diesem Stadtteil vereint zu finden, ist irgendwie ein Ausdruck dessen, was Hospizarbeit auch macht. Abschied nehmen im Leben, Alltag leben in dem Wissen, er ist sehr begrenzt. Das ist wahrscheinlich ein Spruch, den ihr häufiger schon gehört habt, aber ich finde das passt auch: Manchmal muss man sich an Sankt Pauli wirklich gewöhnen, weil Sankt Pauli auf eine Art rau ist und auf andere Art ganz herzlich, aber das finde ich auch so besonders hier.
Wenn man jetzt nach Anekdoten auf Sankt Pauli fragt, da gibt es natürlich viele. Eine ganz besondere … nein, das ist nicht richtig, es gibt nicht „eine“ ganz besondere, es gibt ganz viele ganz besondere. Aber eine besondere Anekdote, die mir einfällt, ist zum Beispiel die: Wir haben einmal einen Menschen begleitet, der ganz lange hier in der Nachbarstraße gelebt hat, ein Hafenarbeiter. Dieser Mensch kam dann zu uns ins Hospiz, weil er eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung hatte. Das war für uns eine ganz schöne Begegnung, weil er ein Mensch war, der, geprägt durch sein hartes Leben, sehr zurückhaltend war und sehr in sich gekehrt. Aufgrund seiner Erkrankung konnte er nicht mehr essen, hat sich aber jeden Morgen von der Küche ein Astra bestellt. Die Hauswirtschafterin hat ihm jeden Morgen ein MOPO mitgebracht und das fand ich wirklich ein ganz schönes Bild, ihn jeden Morgen hier am Esstisch zu sehen mit seinem Astra und seiner MOPO. Dann war sein Weg wirklich ganz lange, über viele Wochen, dass er meistens so gegen Mittag/Nachmittag immer aufgebrochen ist in eine bekannte Kneipe hier um die Ecke, die er einfach immer seit Jahren schon aufgesucht hat und hat sich dann da hingesetzt, sein Astra getrunken. Ein wirklich ganz ruhiger Mensch und dann durch die Erkrankung irgendwann nicht mehr in Lage gut oder viel sprechen zu können. Dieser Mensch ist natürlich irgendwann schwächer geworden, weil ihm auch die Nahrung gefehlt hat. Wir haben dann überlegt: »Können wir den eigentlich jetzt überhaupt noch gehen lassen bis in seine Kneipe?« Kollegen sind dann im Abstand, weil er es in seinem Stolz nicht ertragen konnte begleitet zu werden, hinterher gegangen, um wenigstens zu sehen, dass er über die Simon-von-Utrecht-Straße gekommen ist. Wenn unsere Bewohner versterben, haben wir ein Ritual, dass wir die Menschen namentlich noch einmal verlesen. Nun sind viele Mitarbeiter hier aus dem Haus dem Stadtteil sehr verbunden und kennen sich hier gut aus, sodass es eine Idee hier war aus dem Team, als der besagte Bewohner verstorben ist, zum Abschied für ihn in seine Urkneipe auf Sankt Pauli zu gehen, um mit einem Astra anzustoßen. Was uns extrem berührt hat, und ich finde das ist eben auch Sankt Pauli, dass wir in die Kneipe gekommen sind und an dem Platz, an dem der Bewohner immer saß, stand eine Kerze und ein Astra. Das ist etwas, wo ich heute immer noch einen kleinen Kloß im Hals hab. Das meine ich auch mit „rau, aber herzlich“, dass Sankt Pauli so mitfühlend ist – eben auch in aller Rauheit.
Es gibt viele Anekdoten, wo man manchmal auch was lernt. Bevor ich auf Sankt Pauli gearbeitet habe, habe ich mich schon für recht tolerant gehalten. Beim Arbeiten hier im Stadtteil habe ich gemerkt, dass ich trotzdem noch ganz viele Schubladen habe. Es gibt noch eine Anekdote, die ich ganz schön finde. Wir haben eine Musiktherapeutin, die hier im Haus arbeitet und unsere Bewohner begleitet. Das war in einem Sommer, in dem die Bewohner, die noch die Kraft hatte, gerne vor der Tür saßen und die Musiktherapeutin war draußen und hat mit den Bewohnern zusammen Musik gemacht, also Gitarre gespielt und gesungen. Es gibt hier ja so einen kleinen Park und irgendwann riefen die Kollegen aus der Geschäftsstelle – der Talstraße 67, gleich hier vorne an der Ecke im ersten Stock – an und sagten: »Wenn ihr das sehen könntet, was wir von hier oben sehen!« Da hatten sich nämlich drei obdachlose Menschen hinter die Hecke gelegt und haben ganz entspannt der Musiktherapie gelauscht. Das war für mich auch so ein Ausdruck von diesen zwei Welten: Auf der einen Seite vorne unsere Bewohner und auf der anderen Seite … Dann auch daran teil zu haben, was im Verborgenen passiert, was nur an manchen Stellen sichtbar ist. Da gibt es wirklich viele Geschichten. Es ist für uns natürlich etwas Besonderes, wenn Menschen anfragen, die begleitet werden wollen oder auch begleitet werden müssen, die auch eine besondere Verbindung zu Sankt Pauli haben, weil sie lange hier gelebt haben, weil sie vielleicht auch eine Lebensgeschichte haben, die in einem anderen Stadtteil oder einem anderen Ort nicht so gut verstanden werden könnte oder anders verstanden werden würde als hier. Es ist eben ein sehr besonderer und sehr freigeistiger Stadtteil.
Die Frage, warum unser Hospiz in der Vergangenheit hier so gut hier her passte, hatte ich ja schon in der Entstehungsgeschichte beantwortet … aber auch in der Zukunft, weil alles, was für jeden von uns im Leben als einziges immer sicher sein wird, ist der Tod. Egal, wie wir leben oder was uns im Leben begegnen wird, das ist etwas, was uns alle immer gleich macht. Manchmal ist einem das bewusster, manchmal weniger, aber das ist das, was uns alle vereint und deswegen finde ich es nach wie vor so wichtig, dass auch das Hospiz hier bleibt, weil diese vermeintliche Ambivalenz zwischen Leben und Tod hier ganz stark zum Ausdruck kommt. Für uns ist es auch ganz wichtig, ein geschützter Ort und ein Ort der Ruhe zu sein mitten in diesem Leben und den Menschen die Möglichkeit zu geben, wenn Kraft da ist, am Leben teilzunehmen. Umgekehrt aber auch, zumindest nehme ich das so war, auch für unsere Nachbarschaft oder für anliegende Geschäfte zum Beispiel. Ich freue mich wahnsinnig darüber, wie sehr das Hospiz hier auch mitgetragen wird und anerkannt wird. Es gibt so einen kleinen Feinkostladen um die Ecke, die verkaufen Bücher gegen eine kleine Spende für Hamburg Leuchtfeuer zum Beispiel. Oder der Blumenladen, der uns unterstützt … also auf unterschiedlichsten Ebenen erfahren wir immer wieder Unterstützungen aus dem Stadtteil. Das ist wirklich großartig. Diese Verbundenheit wünsche ich mir natürlich auch für die Zukunft auch weiter.
Und zum Abschluss, wenn man Sankt Pauli mit einem Wort beschreiben müsste … ein Wort ist relativ schwierig, sondern ich finde, es wären wirklich diese drei: Sankt Pauli ist rau, aber herzlich.