Aus dem historischen Niebuhr-Speicher wird der Nochtspeicher, aus dem ehemaligen Erotic-Art-Museum ein Ort für Musik, Literatur, Tanz und Kunst abseits der Partymeile und Saufschneise Reeperbahn.
»Hier findet eine große gegenseitige Unterstützung statt. Wenn man mal Werkzeug braucht, weiß man, wo man hinzugehen hat. Das ist hier sehr kollegial und wir unterstützen uns sehr.«
Mein Name ist Constantin von Twickel. Auf Sankt Pauli kennt man mich eher unter Tino, das ist mein Spitzname, ist die Abkürzung. Wir sind hier der Nochtspeicher und die Nochtwache in der Bernhard-Nocht-Straße 69a. Uns gibt es hier als Live-Musikclub seit 2013. 2019 sind wir Musikclub des Jahres in Hamburg geworden und machen hier überwiegend Konzerte in den Bereichen Alternative, Rock, Pop, Indie, Folk, Singer-Songwriter, Indie-Country, Blues. Wir haben diverse Literaturabende, die auch immer etwas mit Musik zu tun haben. Sehr oft sind es Biografien, die vorgelesen werden, auch im Zusammenhang mit Künstlern, die das Ganze dann musikalisch untermalen, was immer sehr spannend ist und da gibt es dann wieder die Verbindung zur Musik, was unser Kerngeschäft hier ist. Wir haben aber auch Partys, private Veranstaltungen – in jeglicher Hinsicht ist das bei uns machbar, aber wir schauen natürlich ganz genau, was bei uns stattfindet, also in jeder Hinsicht wird das Programm hier auch kuratiert, da wir hier auf Sankt Pauli eine ganz gewisse Atmosphäre haben und wir hier sehr integriert sind in die Nachbarschaft, in den Stadtteil und wir natürlich auch eine gewisse Haltung haben, deswegen schauen wir einfach, was zu uns passt, was wir gerne machen möchten. Das ist ein großes Gut, was wir haben, dass wir wirklich auswählen können, was wir hier veranstalten. Ich habe hier die künstlerische Leitung, mache die Öffentlichkeitsarbeit, Konzeption von verschiedenen Formaten und das ist mit zwei Venues eine ganze Menge. Das heißt, wir haben hier eine große Venue, den Nochtspeicher mit einer Kapazität von 300 Personen stehend und eine kleinere Venue, die Nochtwache im Kellergewölbe mit 180 Personen stehend.
Sankt Pauli ist für uns alle, die wir hier arbeiten, eine große Leidenschaft. Wir sind mit Leib und Seele Sankt Paulianer. Einige von uns wohnen hier, die anderen sehr angrenzend an den Stadtteil und wir haben alle eine tiefe Verbundenheit, Vergangenheit hier. In diversen Lokalen wurde gearbeitet, sei es in der Gastronomie oder im Literaturbereich, im Veranstaltungsbereich … ist alles dabei. Das heißt, wir kennen das hier sehr gut und sind hier auch sehr verwurzelt, haben hier Freunde und das war auch der Grund, warum wir einen Club hier eröffnen wollten, weil es einfach der Stadtteil ist, mit dem wir sehr viel gemeinsam haben, wo wir eine Vergangenheit haben, viel erlebt haben und es auch der bunteste Stadtteil ist. Hier macht es auch am meisten Spaß Veranstaltungen zu machen, es ist sehr zentral, hier bündelt sich vieles und das Schöne ist, dass es hier sehr bunt ist. Das ist das, was am meisten hier Spaß macht, weil wir hier natürlich mit vielen Leuten zusammenkommen und jeder Tag ist anders auf Sankt Pauli. Das finde ich immer ganz bemerkenswert, dass man auf viele Menschen trifft, viele neue Menschen genauso wie bekannte Gesichter. Das ist immer wieder eine spannende Angelegenheit hier.
Wir haben uns im Laufe der Jahre eine kleine Nische geschaffen, was Konzerte angeht, gerade so im Bereich Singer-Songwriter, Folk, Indie, aber auch Soul haben wir uns einen Namen gemacht und sind bekannt für einen guten Sound, eine schöne Atmosphäre. Da legen wir sehr viel Wert drauf, es gemütlich zu haben, es persönlich zu haben. Ich sehe das immer so, dass es wie so eine kleine Familie ist, wie wir das hier betreiben. Alle, von Techniker, Booking, Presse über Geschäftsleitung und Barpersonal, sind da mit Leib und Seele dabei und einer ist für den anderen da – nicht zu vergessen das Reinigungspersonal, das habe ich grade noch unterschlagen … sehr wichtig! Das macht’s hier sehr besonders, dass hier jeder für den anderen da ist und es hier nicht gibt »Oh ne, ich kann nicht« oder »Geht nicht« oder »Meine Arbeitszeit ist zu Ende«, sondern es ist hier sehr viel drauf aus, dass wenn etwas zu erledigen ist, dann wird das auch irgendwie gemacht durch irgendwen, dann wird sich auch abgesprochen, sodass es passiert. Das finde ich besonders schön hier an dem ganzen Arbeitsklima, was wir hier haben.
Es ist eine bunte Nachbarschaft hier, das hatte ich schon erwähnt. Wir sind hier auch ein ganz besonderes Projekt. Dadurch, dass wir in einem Hinterhaus sind umgeben von Nachbarn, die hier wohnen, viele Familien mit Kindern, da heißt es auch ganz besonders aufeinander Rücksicht zu nehmen und das findet auch sehr gut statt. Es gibt sehr regen Austausch, das heißt wenn mal etwas sein sollte, was in den letzten Jahren wirklich sehr selten vorgekommen ist – es war mal laut oder Lärm von Gästen, das findet relativ, aber selten statt – aber dann gibt es auch einen Austausch und dann wird da auch dran gearbeitet, da Lösungen zu finden. Im Grunde genommen ist es aber so, dass die Nachbarschaft es sehr schätzt, dass wir hier sind, dass wir hier Programm machen. Die Nachbarschaft hat hier auch sozusagen ein »goldenes Ticket«, das heißt, dass die jederzeit unsere Veranstaltungen umsonst besuchen dürfen. Die kommen hier rein, kommen auch manchmal nur kurz hierher, trinken ein Bier oder ein Wein oder schauen sich das kurz an. Das ist auch total wichtig da diesen Austausch zu haben. Für uns ist es auch so, die Leute kommen hier her als würde ich zu ihnen herübergehen ins Wohnzimmer und wir trinken etwas zusammen und das ist besonders schön und viele haben hier auch schon selbst gefeiert, sei es Geburtstage, eine Hochzeit hatten wir schon, das verbindet uns hier alle sehr und ich finde, das ist so eine Art Vorzeigeprojekt, wie es wahrscheinlich auch in Zukunft vermehrt stattfinden wird, gerade solche Kulturstätten und Clubs in Wohngebiete zu integrieren, weil die Urbanisierung immer stärker wird und der Raum immer dichter wird. Das wird einfach ein Zukunftsmodell werden, wir sind da schon mitten drin und es funktioniert hier ganz gut.
Ich finde, dass wir hier was geschaffen haben, also mit einem historischen Gebäude, was erhalten wurde. Das war hier früher mal die Niebuhr Schnapsbrennerei. Das Gebäude ist circa 150 Jahre alt. Hier sind alles original Holzbalken drin, das heißt hier wurde sehr darauf geachtet die Substanz in der Sanierung zu erhalten. Das macht es für uns besonders schön und gemütlich hier und wirkt sich auch auf den Sound und die Atmosphäre aus. Das heißt wir haben hier etwas erhalten, was eine Geschichte hat, was sehr bedeutend war. Im Keller gibt es noch riesige Katakomben. Was vielleicht die wenigsten wissen: Sankt Pauli ist komplett unterkellert. Es gibt riesige Räume, wo es früher so war, dass vom Hafen die ganzen Getränke oder Schnaps geschmuggelt wurde. Das wurde alles unterirdisch in die Bars hier gebracht, das heißt jede Bar hat von unten einen Zugang. Das ist ganz spannend, ich durfte mir das auch schon einmal anschauen mit dem Hausmeister. Die Zugänge sind natürlich jetzt alle verschlossen, da kommt man jetzt nicht mehr rein, aber unten diese riesigen Räume sind halt Wahnsinn. Da wurde sehr viel gelagert, viel hin und her geschoben. Das ist sehr interessant und ich finde es total wichtig, dass man solche Räume erhält und sie vor allem auch mit Kultur füllt in jeglicher Art und Weise. Grade alte Bausubstanz wird ja sehr viel heruntergerissen, es wird sehr viel neu hochgezogen und finde, das ist etwas, was sehr schade ist, weil es eben dieses typische Stadtbild verändert und dann auch so beliebig macht in vielen Städten, wenn dann nur noch Glaspaläste stehen oder neumodische Gebäude.
Wir fühlen uns hier sehr, sehr wohl und im Allgemeinen ist es so, dass Sankt Pauli für uns ein sehr toller Stadtteil ist, sehr bunt mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen, die auch unterschiedlichen Gewerken nachgehen, mit kleinen Läden, die es hier an der Ecke gibt, wo man immer mal schnell hin kann, wenn irgendwas ausgeht am Abend. Hier findet eine große gegenseitige Unterstützung statt. Wenn man mal Werkzeug braucht, weiß man, wo man hinzugehen hat. Das ist hier sehr kollegial und wir unterstützen uns sehr. Wir haben zum Beispiel hier vorne die Washington Bar in der Bernhard-Nocht-Straße, mit der wir sehr verbunden, befreundet sind und uns da auch immer wieder austauschen und man sich gegenseitig auch mal was ausleiht. Wenn die mal Bierbänke brauchen oder Stühle, Tische, was auch immer für irgendwas, dann helfen wir uns da einfach gegenseitig. Uns geht’s auch einfach darum, gerade jetzt in dieser Zeit, in der Coronazeit, wo so viele Probleme da sind, Auflagen, Anträge zu stellen sind, da gibt’s auch Fragen, wo wir uns dann auch gegenseitig helfen: »Wie gehe ich da vor? An wen muss ich mich wenden?« Das macht’s aus, finde ich, auf Sankt Pauli. Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich fühle mich hier auch, ehrlich gesagt, sicher. Es wird ja auch immer sehr viel beschrieben, dass Sankt Pauli ein Stadtteil ist, wo sehr viel Gewalt herrscht, das möchte ich auch gar nicht leugnen oder ausschließen, das findet leider statt, aber ich möchte auch ganz klar sagen, dass mir das so noch gar nicht passiert ist. Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich viele, viele Jahre hier schon arbeite, unterwegs bin und viele Leute kenne und fast an jeder Ecke einen habe, wo ich mal »Hallo« sage, das heißt, sollte mal was passieren, ist es eigentlich nicht weit jemanden zu finden, der einem vielleicht hilft.
Insofern stört mich hier auf Sankt Pauli relativ wenig. Es ist manchmal … ja, grade so im Sommer ist der Tourismus manchmal sehr stark und es ist sehr überlaufen. Du hast manchmal wenig Platz und das kann schon mal anstrengend sein, das finde ich schon, ja. Die Touristen bringen aber ja natürlich wieder was mit, die bringen ja auch ein bisschen Geld hier rein, kurbeln die Wirtschaft an, helfen sämtlichen Läden. So wirklich stören tut mich hier eigentlich nichts, nö.
Sankt Pauli ist – ich glaube ich hab’s grade schon ein paarmal gesagt – einer der buntesten und interessantesten Stadtteile, weil es hier auf sehr kleinem Raum so viele verschiedene Menschen gibt, die auch unterschiedliche Geschäfte betreiben und auf engstem Raum miteinander klarkommen. Und verschiedenste Nationen, das finde ich sehr schön, weil es auch sehr bunt ist und sehr vielfältig und man auch immer wieder neue Einblicke bekommt. Ich weiß gar nicht wo es das auf der Welt nochmal gibt, wahrscheinlich New York zum Beispiel, das fällt mir jetzt grade ein, in London gibt’s das auch, wo es so viele unterschiedliche Herkunften von Menschen gibt, die so friedlich miteinander leben und auch miteinander zurechtkommen und das auch möchten, das finde ich auch total wichtig, dass die auch alles dafür tun, dass es funktioniert. Das schätze ich hier sehr, deswegen finde es sehr spannend auch mit Teil davon zu sein mit diesem Betrieb, mit dieser Kultur, die wir hier machen. Das ist das, was es für mich hier lebenswert macht oder einen gewissen Wert hat hier tätig zu sein.
Das schöne bei Künstlern und Künstlerinnen hier ist zum Beispiel, dass wir ja ein relativ kleiner Musikclub sind mit 300 Personen Kapazität, aber es für viele Künstler grade total interessant ist wieder kleinere Clubshows zu spielen und eher intimere Shows zu spielen und wir auch ganz oben auf einer Liste stehen, also wir haben ganz viele Künstler, die dann sagen: »Naja, ich könnte jetzt eigentlich in ’nen größeren Club gehen, aber ich find’s bei euch so toll. Dann spiele ich mal zwei Tage hintereinander.«
Das gibt’s halt auch mal. Wenn es dann in den Tourplan passt, freut es uns natürlich ungemein, weil es zeigt eigentlich, wie wir arbeiten, wie wir das hier machen wollen, wie wir die Atmosphäre haben wollen, dass das funktioniert, dass das auch bei den Künstlern und Künstlerinnen ankommt und das ist allerwichtigste, dass die sich hier wohl fühlen. Darum geht es und nur so können die auch eine tolle Show abliefern. Wer schon mal auf Tour gewesen ist – ich kann da ein Lied von singen – weiß, wie wichtig es ist, wenn man irgendwo hinkommt, dass man sich da wohlfühlt, dass man sich aufgehoben fühlt. Geht nicht gibt’s bei uns nicht, das heißt wir machen alles möglich, was machbar ist. Das ist hier ja auch das schöne, weil jeder Tag anders ist und sich immer wieder neue Herausforderungen stellen und neue Situationen, die man zu lösen hat, die wir auch gerne lösen. Das ist das, was uns antreibt. Es gibt viele … ich kann zum Beispiel einen herausnehmen, das ist ein Autor, John Niven. Ein Schotte, der sehr viele Bücher schon geschrieben hat, grade über die Musikindustrie, der sehr viel aufgedeckt hat in dieser Welt, wo sehr viel undurchsichtiges passiert und auch sehr viele Leute über ‘n Tisch gezogen werden. Ein offener, klarer Mensch, der mit ganz offenem Visier spricht mit jedem, nicht nur mit dem Publikum, mit jedem, mit dem er sich danach unterhält, aber dabei so einen Charme besitzt, dass ihn alle einfach lieben. Er hält aber auch mit Fekalausdrücken nicht hinterm Berg, aber auch das kriegt er auch so hingebogen, dass ihm das keiner übel nimmt. Es gibt diverse Musiker und Musikerinnen, die immer wieder hier her kommen, jedes Jahr fast jetzt schon oder alle zwei Jahre mindestens, weil sie sich hier sehr wohlfühlen. Wenn es jetzt nicht grade das Management oder die Agentur bestimmt »Ne, du musst jetzt größer spielen«, was wir auch total nachvollziehen, weil Künstler ja auch wachsen sollen und wir verstehen uns hier auch als so eine Art Brutstätte für Newcomer oder eben für Bands, die dann auch später in Barclaycard Arena aufgetreten sind und hier vor 120 Leuten angefangen haben. Das finde auch immer ganz spannend. Das ist ja klar, dass wir die nicht ewig begleiten, aber die auch manchmal gerne zurückkommen und sagen: »Hey, ich möchte mal wieder eine kleine Show spielen!« Sei es akustisch oder mit einer kompletten Band, das gibt es eben auch. Da gibt es so diverse Verbindungen mit Künstlern, die wir da haben und auch hier lokal und das macht besonders Spaß und ich hoffe, dass wir das weiter ausbauen können. Das freut mich ganz besonders, dass wir so enge Bindungen da haben.